Sie finden sich verstreut über ganz Mitteleuropa, die geheimnisvollen Spuren aus ferner Vergangenheit. In Deutschland, in Österreich, Tschechien, Polen oder Ungarn: überall und fast jedes Jahr entdecken Archäologen weitere rätselhafte Ringe, gewaltig in ihren Ausmaßen, mit einem Durchmesser von bis zu zweihundert Metern. Die Luftbildarchäologie bringt sie zum Vorschein und sie führen, wie wir heute wissen, fast siebentausend Jahre zurück, ans Ende der Steinzeit. Zu einer Kultur, die zum ersten Mal mitten im Herzen Europas monumentale Bauwerke errichtete.
Während sich die Wissenschaftler weitgehend darin einig sind, wie diese riesigen Erdwerke einmal ausgesehen haben – tief eingeschnittene kreisrunde Gräben, blickdichte Palisaden aus Holz, mit Toren, die über Erdbrücken zu erreichen waren – sind die Bedeutung, die Funktionen der Monumente noch immer umstritten.
Ein Film von Wolfgang Würker
Kamera: Riccardo Brunner
Schnitt: Jörg Schömmel
Musik: Silke Matzpohl
Sprecher: Gert Heidenreich
Redaktion: Hans Helmut Hillrichs
Waren es, so die ersten Hypothesen, Fliehburgen oder Krale, in denen Vieh zusammengetrieben wurde? Oder dienten sie als Versammlungsort, als Opferplatz oder anderweitige Kultstätte? Waren sie eine Art steinzeitlicher Kathedrale, Heiligtümer einer Lebenswelt, die schon damals weit entwickelt war? Nicht zuletzt finden sich viele Indizien dafür, dass die kreisrunden Anlagen auch astronomische Bezüge hatten, dass sie Kalenderbauten waren, Orte, an denen der Himmel beobachtet wurde, um den besten Zeitpunkt für Aussaat oder Ernte abzulesen. Und das alles lange vor Stonehenge und lange vor den Pyramiden Ägyptens.
In Goseck an der Saale wurde eine Anlage an ihrem ursprünglichen Ort rekonstruiert: angeblich das älteste „Sonnenobservatorium“ der Welt. Mehr als tausend Eichenstämme bilden einen doppelten Palisadenring mit drei Eingängen. Tatsächlich geht die Sonne am kürzesten Tag des Jahres genau hinter dem südöstlichen Tor auf und hinter dem südwestlichen Eingang unter. Nicht weit von Goseck entfernt wurde die berühmte Himmelsscheibe gefunden. Ihre goldenen Horizontbögen markieren gleichfalls die Wintersonnenwende. „Steinzeitliches Wissen auf einer bronzezeitlichen Scheibe“, sagt Dr. Harald Meller, der Landesarchäologe Sachsen-Anhalts, „eine spannende Angelegenheit. Das zeigt uns, dass die Wissensvermittlung in nicht schriftlichen Kulturen selbstverständlich nicht immer linear verläuft, sondern merkwürdige Umwege geht.“
Genauso spannend wie die Suche nach der ursprünglichen Bestimmung der Kreisgräben
gestaltet sich auch die Suche nach der Herkunft ihrer Urheber. Führen die
Monumente auf direktem Weg zu den ersten Bauern Europas zurück? Und stammen
wir Europäer heute von diesen, wohl aus dem Osten eingewanderten Landwirten
ab? Das zumindest hatte Prof. Joachim Burger, Anthropologe an der Universität
in Mainz, eigentlich erwartet. Doch die Auswertungen seiner Gen-Analysen im
Mainzer Spurenlabor zeigen ein verblüffendes Ergebnis. Die ersten Landwirte in
Europa können nicht unsere Vorfahren sein. Denn sie haben im Erbgut des heutigen
Europäers keine nachhaltigen Spuren hinterlassen. D.h. andere Bevölkerungsgruppen
haben sich langfristig durchgesetzt. Die Frage bleibt: wer war es dann? Vielleicht
die Nachfahren einheimischer Jäger und Sammler, die – von der Idee der Land-
wirtschaft
überzeugt – schon wenige Jahrhunderte später damit begannen, sich niederzulassen
und Schafe, Ziegen und Rinder zu züchten? Sind die faszinierenden „Kathedralen
der Steinzeit“ also Ausdruck dieser neu gewonnenen gesellschaftlichen
Organisation?
Der Film verlässt die dichten Wälder der Nacheiszeit. Er tritt hinaus auf Lichtungen, mitten ins Leben, in die Gedankenwelt der frühen Siedler Mitteleuropas. An der Seite renommierter Wissenschaftler entdeckt er dörfliche Gemeinschaften, die offenbar nicht so egalitär organisiert und friedlich waren wie bisher angenommen. Er stößt auf technisch und astronomisch erstaunlich kenntnisreiche Baumeister, aber auch auf die Schädel und Skelette gewaltsam aus dem Leben beförderter Personen. In Brunnenschächten oder tief im Lössboden verborgen findet er Hinweise auf den keineswegs idyllischen Alltag von Siedlern, die erst lernen mussten, mit den Herausforderungen der Sesshaftigkeit fertig zu werden. Die einen hatten als Bauern mehr, die anderen weniger Erfolg. Und vielleicht hat sogar ein kleines genetisches Merkmal – die Fähigkeit, auch im Erwachsenenalter Milch zu verdauen – in der Erfolgsgeschichte der Landwirtschaft zum alles entscheidenden Vorteil geführt. Mithilfe spektakulärer Funde, von Reenactments, Modellbau und Computeranimationen entsteht das überraschende Bild einer Zeit, die wir bislang so nicht kannten.
Dank
Die Arbeit an den „Kathedralen der Steinzeit“ erstreckte sich über mehrere Jahre.
Viele halfen dabei und förderten das Projekt, ohne dass sie am Film dann unmittelbar
beteiligt waren. Prof. Jens Lüning in Köln zum Beispiel oder Prof. Eckart Voland
in Gießen. Ihnen und allen anderen danke ich für die konzentrierten Gespräche und
wertvollen Hinweise. Den Wissenschaftlern und engagierten Studenten in Frankfurt,
Mainz und Wien.
Ein besonders herzliches Dankeschön sende ich Wolfgang Neubauer.
Er und seine Mitstreiter auf dem Heldenberg, darunter Wolfgang Lobisser,
haben die Welt vor fast siebentausend Jahren für diesen Film neu entstehen lassen.
Ohne ihren fachkundigen Beistand wären Inszenierungen rund um die Kreisgrabenanlage
auf dem Heldenberg nordwestlich von Wien nicht möglich gewesen.